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Matthias Wegner • 25. Dezember 2023
001 - Wirklichkeitskonstruktion

Um uns in unbekannten Gebieten zu orientieren, ist es wichtig, die richtige Ausrüstung dabei zu haben. Ein Kompass und eine Karte können uns helfen, unseren Weg zu finden und unsere Route festzulegen. Aber woher bekommen wir diese Karte? Wer hat sie erstellt und ist sie noch aktuell? In diesem Artikel geht es nicht nur um die Kartographie einer bestimmten Region. Es geht vielmehr um das abstraktere Konzept der allgemeinen Modellbildung. Durch das Erstellen von Modellen können verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden, um komplexe Zusammenhänge besser verstehen zu können. Diese Modelle ermöglichen es uns auch Entscheidungen auf Basis dieser Informationen zu treffen und somit unsere Ziele effektiver erreichen zu können. Die Nutzung von Modellen hilft uns dabei komplexe Zusammenhänge verständlicher darzustellen und letztendlich eine bessere Weltbegreifen herbeizuführen.

1. Einleitung: Warum ist Modellbildung wichtig?

Wissen ist kein Bild oder keine Repräsentation der Realität, es ist vielmehr eine Landkarte dessen, was die Realität uns zu tun erlaubt. Es ist das Repertoire an Begriffen, begrifflichen Beziehungen und Handlungen oder Operationen, die sich in der Verfolgung unserer Ziele als viabel erwiesen haben [1].

Ernst von Glasersfeld

Die Modellbildung ist ein bedeutender Prozess, um die komplexe Realität zu erfassen und besser zu verstehen. Oftmals betrachten wir die Realität aus verschiedenen Blickwinkeln und nehmen sie dadurch unterschiedlich wahr. Indem wir Modelle erstellen (ähnlich wie Landkarten), können wir verschiedene Perspektiven auf dieselbe Szene der Wirklichkeit einnehmen. Dadurch kann beispielsweise eine Landschaft kartiert werden, um Autofahrern, Historikern, Wanderern, Soziologen, Geologen oder Städteplanern zu helfen. Jeder benötigt seine eigene Sichtweise und Karte der Realität, um sie nach seinen Vorstellungen gestalten oder nutzen zu können. Mit den verschiedenen Modellperspektiven können Entscheidungen für die reale Welt abgeleitet werden. Die Modellbildung ist daher nicht nur in der Wissenschaft relevant, sondern auch im Alltag von Bedeutung und hilfreich. Denn je besser man seine Umwelt versteht desto erfolgreicher kann man handeln und seine Ziele erreichen.

Im oberen Bild sind verschiedene Karten für unterschiedliche Nutzer dargestellt. Eine Wanderkarte hilft dabei, einen Weg zu finden, der auf ein bestimmtes Ziel mit entsprechender Bodenbeschaffenheit abgestimmt ist und bei großer Mittagshitze möglicherweise etwas Schatten bietet. Die in der Karte enthaltenen Höhenlinien geben eine Vorstellung von der Schwierigkeit des Geländes. Mit einer Vielzahl von skizzierten Merkmalen unterstützt die Karte den Wanderer dabei, einen Mehrwert zu erzielen. Auf diese Weise kann die Modellbildung vorteilhaft genutzt werden:


  • Hilfsmittel im Umgang mit Realität
  • Verstehen und Prognostizieren von Verhalten
  • Veranschaulichen von komplexen Sachverhalten
  • Verallgemeinerung von individuellen Prozessen
  • Simulation von möglichen Einflussfaktoren oder Scenarien

2. Was ist Modellbildung und wie wird sie angewendet?

Die Erschaffung von Modellen ist nicht nur ein Prozess, sondern DER Prozess, um unsere komplexe Wirklichkeit für unseren Verstand zugänglich zu machen. Auf diese Weise schaffen wir eine Abbildung der Realität aus einem bestimmten Blickwinkel oder einer Perspektive heraus, um bestimmte Aspekte oder Zusammenhänge hervorzuheben und andere auszublenden. Dadurch betrachten wir die Realität wie durch verschiedene Brillengläser oder ein vielfarbiges Kaleidoskop. So sind wir in der Lage, verschiedenste Facetten der untersuchten Wirklichkeit wahrzunehmen.

Alle Erkenntnis ist subjektiv und kontextabhängig - gleichwohl ist (nahezu) objektive Schaffung von Wissen möglich [2].

Uwe Saint-Mont


Die nach-kantische Philosophie und Naturwissenschaft kann sich der Konsequenz immer weniger entziehen, dass die Hypothesen, die theoretischen Entwürfe der Naturwissenschaften nicht eine an-sich-seiende Wirklichkeit wiedergeben. Sie sind nur Modelle. [. . . ] Das Modell ist also etwas, mit dem wir anstelle einer nicht fassbaren Wirklichkeit operieren [3].

G. Frey

Um uns Zugang zur Modellbildung zu verschaffen, müssen wir zunächst verstehen, was ein Modell beinhaltet:


  • Kontext: Bevor wir ein Modell konstruieren können, müssen wir den Sinnzusammenhang kennen, der das Modell in einen Sach- und Situationszusammenhang setzt. Dieser Zusammenhang (lat. contextus) verbindet die Situation mit dem Modell. Zum Beispiel wäre eine Wanderkarte sinnlos im Kontext einer Wanderung in Sizilien, wenn sie eigentlich das französische Elsass abbilden soll.
  • Fragestellung, Problem: Jede Modellierung entsteht aus einer Fragestellung heraus und soll eine bestimmte Antwort liefern. Es gibt praktisch kein Modell ohne Fragestellung wie z.B.: "Wie finde ich als Wanderer den Weg durch diese unbekannte Region innerhalb der nächsten 2-4 Stunden?
  • Zweckbezug: Ein Modell wird in der Regel nicht einfach nur zum Spaß erstellt. Jedes Model hat einen Zweck und dient einem Nutzen. Eine Mars-Wanderkarte hätte zum Beispiel wenig Nutzen für gewöhnliche Wanderungen auf der Erde - es sei denn man versetzt sich in die Lage von Matt Damon im Film "Der Marsianer".


Die drei Merkmale - Kontext, Zweck und Nutzen - sind bei jedem Modell vorhanden, aber meistens implizit wie mit unsichtbarer Tinte geschrieben. Das gilt nicht nur für Landkarten, sondern auch für viele wissenschaftliche Modelle. Das ist bedauerlich, da gerade der Sinn-, Problem- und Zweckbezug des Modells, sowie seines Entstehungsprozesses wertvolle Informationen bieten könnten.. Sobald ein Modell fertiggestellt ist enthält es noch wertvolle explizite Merkmale:


  • Hypothese: In jedem Modell steckt mindestens eine Annahme, die eine Aussage über die Wirklichkeit treffen soll. Es wird angenommen, dass die Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden kann - unabhängig davon ob dies mathematisch, physikalisch oder auf andere Weise geschieht. Wenn einem Modell mehrere Hypothesen zugrunde liegen und diese in gewisser Form bereits bestätigt wurden, spricht man von einer Theorie.
  • Lösung, Antwort, Information: Ein Modell stellt immer mindestens eine Lösung bereit. Andernfalls hätte es keinen Zweckbezug und wäre nutzlos. Außerdem würde es dem Nutzer des Models nicht bei der Bewältigung der Realität helfen.
  • Eigenschaft: Ein Modell kann Eigenschaften haben, so z.B. eine Landkarte einen Maßstab haben kann. Für Fachexperten haben Modelle dann entsprechend lesbare Eigenschaft, so wie es für einen Chemiker das Normalpotential für das Modell chemischer Prozesse gibt.
  • Element: Elemente eines Modells sind abgrenzbare Gruppierungen von Eigenschaften, die z.B. funktional gebündelt werden.
  • Relation: Innerhalb eines Modells kann es Zusammenhänge mathematischer oder struktureller Natur zwischen Elementen und Eigenschaften geben, die man schlicht in Beziehung zueinander setzt und deshalb "Relation" nennt.

In Anbetracht dessen, was ein Modell alles beinhaltet, wundert es, dass diese Schätze nicht in einfacher Form zugänglich sind, sondern die "unsichtbare Tinte" erst mit Fleiss und einem Hauch Zitronensaft sichtbar gemacht werden muss. Aber die Entdeckung unserer Wirklichkeit ist mit ihren Wirklichkeitsbeschreibungen ein wunderbarer Zugang alle Facetten dieser Wirklichkeit zu ergründen.

Wie können wir eigene Modelle erstellen?

Die Modellbildung nahm ihren Ursprung in der Logik der Philosophie und festigte sich dann durch Wiener's Kybernetik und die Systemtheorien von Bertalanffy, Parsons und Luhmann. Aus der Kybernetik kann man das einfache SOMA-Modell  zur Modellbildung verwenden [6], [7]. SOMA steht für


  • S - Subjekt: Das Subjekt interpretiert mit entsprechenden Filtern eine Beschreibung der Wirklichkeit
  • O - Original: Das Original ist die Wirklichkeit, die modelliert werden soll
  • M - Modell: Das Modell ist das Abbild der Wirklichkeit aus einer angenommenen Perspektive
  • A - Adressat: Der Adressat formuliert den Zweck für den das Modell genutzt werden soll


Das, was man ein Modell nennt, ist hier in Beziehung gesetzt zu einem Modelloriginal, einem Modellsubjekt und einem Modelladressaten. 


  • Zwischen Modell und Modelloriginal besteht eine Analogierelation, welche das Abbild der Wirklichkeit im Kontext des Zwecks in eine Beziehung zur Wirklichkeit setzt.
  • Zwischen dem Modell und dem Modellsubjekt besteht eine Verfügungsrelation, dh der Ersteller des Modells setzt sich in eine Verbindung mit dem entstehenden Modell.
  • Zwischen Modellsubjekt und Modelloriginal besteht eine Verhaltensrelation, weil die Art des Beobachtens der Wirklichkeit ein Verhalten des Bobachters darstellt.
  • Soweit es sich beim Adressaten um eine Person handelt, ist diese ebenfalls durch eine Verhaltensrelation an das Modelloriginal und eine Verfügungsrelation an das Modell gebunden, schlicht weil das Modell als Ziel hat sich eine Einflussnahme des Adressaten in der Wirklichkeit sicherzustellen.
  • Modellsubjekt und Modelladressat sind durch eine Zweckrelation verknüpft, da der Zweck faktisch die Filterkriterien der Modellbildung bestimmt. Nicht selten sind wir auch gleichzeitig Zweckgeber und Modellbildner.


Um dein eigenes Modell zu erstellen, solltest du eine klare Vorstellung davon haben, was du modellieren möchtest und welches Ziel und Zweck du damit verfolgst. Dazu solltest zuerst herausfinden:


  • Welchen Zweck und Nutzen hat der Nutzer (=Modelladressat) des Modells von dem Modell?
  • Wer ist als Modellersteller (=Modellsubjekt) dein Kunde?
  • Welche Filterkriterien geben dem Modell die wesentlichen Merkmale der Wirklichkeit?
  • Welche relevanten Informationen und Daten hast du zu sammeln? Welche geeignete Methoden wählst du aus, um diese Informationen in dein Modell einzubeziehen?
  • Gibt es andere Nutzer oder Zwecke? Gibt es andere Blickwinkel die zu berücksichtigen sind um im Modell wichtige Aspekte abzudecken?
  • Wie kannst du dein Modell im Nutzen überprüfen, so das die Anforderungen des Adressaten abgedeckt werden?

Als Beispiel wollen wir zur Modellbildung wieder die Erstellung einer Landkarte bemühen [4]:


Modelloriginal ist die Landschaft. Modellsubjekt ist der Hersteller der Karte, der Kartograph. Er ist in der Lage, aus Daten, die er durch Beobachtungen und Messungen gewonnen hat (Verhaltensrelation), die Karte zu erstellen. Was und wieviel er im einzelnen einträgt und wie er es darstellt, wird von ihm verfügt (Verfügungsrelation) und hängt vom speziellen Zweck der Karte ab. Eine Wanderkarte der Landschaft soll dem Wanderer als Adressaten helfen, sich in der Landschaft zurechtzufinden, schon ehe er die Wanderwege aus eigener Erfahrung kennt. Damit ist der vom Kartographen beabsichtigte Zweck der Karte erfüllt (Zweckrelation). Einen etwas anderen Zweck hätte eine Radkarte für einen anderen Adressaten, den Radfahrer: Dieser möchte der Karte für seinen Trail die Wegbeschaffenheit entnehmen und nicht in erster Linie Steigungen oder umliegende Rasthäuser. Die Analogierelation beschreibt die Ähnlichkeit der Karte mit der Landschaft. Sie kann struktureller Art (Wie?) bzw. qualitativer Art (Was?) sein. Die Abbildung ist nie vollständig, es liegt immer eine – durchaus beabsichtigte – Verkürzung, Vereinfachung vor.


So kannst du stets entscheiden in welchen Graden du das Modell strukturell bzw. qualitativ der Realität angleichst. Damit kannst du das Modellbild anreichern mit einem festgelegte Maßstab, welcher eine hohe strukturelle Angleichung garantiert. Zeichnest du Höhenlinien durch Striche ein, erzeugst du eine höhere qualitative Angleichung der Wirklichkeit im Modell als wenn du nur Farbcodierungen verwendest.

Bedenke also, dass verschiedene Blickwinkel unterschiedliche Modelle hervorbringen können - daher sollten alternative Perspektiven in Betracht gezogen werden. So kannst du ein und dasselbe Modell mit mehreren Perspektiven anreichern (z.B. mit Höhenlinien) und so mehrere Zwecke gleichzeitig zur Wirklichkeitserfahrung ermöglichen. Mit etwas Übung kannst du deine Fähigkeiten in der Wirklichkeitsmodellierung verbessern und ein tieferes Verständnis für die Welt gewinnen.


Erstelle gerne selbst Modelle der Wirklichkeit und vergleiche sie mit Experten in diesem Bereich. Such den Dialog mit anderen Modellbauern und frage sie um Rat. Insgesamt zeigt sich, dass Modellbildung ein wichtiger Prozess ist, der uns helfen kann die Welt besser zu verstehen und Entscheidungen zu treffen. Wer gelernt hat validierte Modelle der Wirklichkeit zu schaffen, kann sich als Gestalter seines Lebens bezeichnen.

Fazit: Mit Modellen die Welt verstehen

Mit Modellen die Welt besser verstehen - das ist Wirklichkeitskonstruktion. Denn mithilfe von Modellbildung können wir komplexe Zusammenhänge und Situationen verständlicher machen und somit besser begreifen. Doch auch die unterschiedlichen Blickwinkel auf ein Thema oder einen Sachverhalt können zu unterschiedlichen Modellen führen - hier gilt es herauszufinden, welches Modell am besten geeignet ist, um eine bestimmte Fragestellung zu beantworten. Dieser Blog soll den Raum öffnen Erfahrungen und Modelle zu teilen, die die Fähigkeiten zur Wirklichkeitsmodellierung schärfen. So manche Fragen werden unbeantwortet bleiben, einige ein zarter Versuch einer Antwort. So oder so, sollte es dir aber helfen ein klares Bild zu erhalten über Dich und die Wirklichkeit, die die umgibt und wie du dich in ihr zurechtfinden kannst. Jeder weitere Artikel sollte dir kaleidoskopischen Perspektiven eröffnen um eigene Wirklichkeitserfahrungen zu machen.


Herzlichst,

Matthias

Quellen


  • [1] Ernst von Glasersfeld, Wege des Wissens - Lehren und Lernen aus der Sicht eines Konstruktivisten, 1991, ISBN: 978-3-89670-888-5
  • [2] Uwe Saint-Mont, Kontext als Modelle der Welt, Subjektive Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, 2000, ISBN: 3-428-09974-5
  • [3] G. Frey, Symbolische und ikonische Modelle, Synthese, Band 12, Ausgabe 2, 1960
  • [4] P. Hägele, Physik - Weltbild oder Naturbild?, 2000, Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Regensburg
  • [5] K. Popper, Ich weiss, daß ich nichts weiß, und das kaum. ISBN 978-3548348339
  • [6] G. Klaus, Wörterbuch der Kybernetik, 1969, ISBN: 9783436010577
  • [7] W. Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, 1993, ISBN: 9783534073979


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